Tanzte sich der Mensch zur Krone der Schöpfung?

Magazin "P.M." 02/2014

Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen sind sich einig: Tanz spielt eine herausragende Rolle für die evolutionäre Entwicklung des Menschen

Weil Bewegung so flüchtig ist, haben die tanzenden Füße unserer Vorfahren auf dem Boden keine Spuren hinterlassen; ihre Gebärden und Gesänge sind längst verweht. Trotzdem glauben Wissenschaftler, dass der Mensch bereits in der Altsteinzeit tanzte. Hinweise darauf geben Felsmalereien und Ritzfiguren aus Höhlen in Frankreich, etwa in der Höhle von Teyjat im Département Dordogne oder in der Drei-Brüder-Höhle auf der französischen Seite der Pyrenäen. Forscher interpretieren die dort dargestellten Figuren als in Tierfelle gekleidete Schamanen, die sich in Trance tanzen und Jagdrituale zelebrieren.
Tanz ist etwas Urmenschliches. „Er existiert in Europa seit 40 000 Jahren“, erklärt Harald Floss, Prähistoriker an der Universität Tübingen. Die rhythmische Körperbewegung nach einem vorgegebenen Takt ist nicht nur tief mit unserer Geschichte verwoben, sie ist auch eine rein menschliche Angelegenheit: Tiere tanzen fast nicht. Wenn Tiere den Anschein erwecken zu tanzen, hat dies einen ganz anderen Charakter als beim Menschen: Haben Bienen bei ihrer Futtersuche üppige Blütenpflanzen entdeckt, berichten sie durch einen Schwänzeltanz von ihrem Fund, sobald sie zurück im Nest sind. Die Schwänzelbewegungen der Tänzerin übermitteln den Stockgenossen die Richtung und die Größenordnung des Nahrungsangebots.

Paarungswillige Skorpione halten sich an den Scheren und tanzen manchmal mehrere Stunden miteinander. Auch die Tanzbalzrituale von Vögeln erinnern an künstlerisch gestaltete Choreografien. Doch der Unterschied zum Menschentanz ist offensichtlich: Die tierischen Tänzer kommen ohne systematisches Üben aus und folgen keinem hörbaren Takt – eher einem biologischen Rhythmus, dem genetischen Programm, das jedes Tier in sich trägt. Dennoch sind es Tiere, die wichtige Indizien dafür liefern, dass Tanz und Sprache eng miteinander verbunden sind: Die beiden amerikanischen Psychologen Adena Schachner und Aniruddh Patel spielten einem Kakadu und zwei Papageien Popmusik vor und beobachteten, dass die Vögel dazu im Takt mit dem Kopf wackelten und rhythmisch von einem Fuß auf den anderen traten. Die Versuchstiere passten sich sogar den wechselnden Tempi an. Die Forscher gehen davon aus, dass diese Fähigkeit darauf beruht, dass Gehör und Motorik eng miteinander verbunden sind. Schachner analysierte Hunderte Spezi­es und erkannte, dass nur die Tiere einen Takt aufgreifen, die Lautnachahmung betreiben, etwa der Papagei. Allerdings spie­le das Tanztalent für die Vögel in freier Wildbahn keine Rolle, führt Schachner aus, und habe für die evolutionäre Ent­wicklung der Tiere keine Bedeutung.

Ist der Tanz also ein Nebenprodukt der Sprache oder, umgekehrt, die Sprache ein Nebenprodukt des Tanzes? Und wenn der Tanz für den Papagei keinen Evolutionsvorteil bedeutet, wie ist das beim Men­schen? War der Tanz für dessen Entwicklung entscheidend oder ist er nur eine Laune der Natur? Die Theorie des Linguisten Wolfgang Steinig von der Universität Siegen führt uns rund vier Millionen Jahre zurück auf den afrikanischen Kontinent in die Welt des menschenartigen Australopithecus.

Entstand der menschliche Tanz vor vier Millionen Jahren in Afrika?

Dieser Vormensch kletterte geschickt auf Bäume und konnte bereits auf zwei Beinen gehen, was seine Überlebenschancen steigerte. Darüber hinaus haben die „frischgebackenen Zweibeiner“ (Steinig) vermutlich angefangen zu tanzen, weil Tanz als exzessivste Form der Fortbewegung auf zwei Beinen einen gut ausge­ prägten Gleichgewichtssinn demonstriert, ästhetischen Ansprüchen genügt und so den Erfolg beim anderen Geschlecht erhöht. Der Tanz habe für den Menschen die „Quadratur des Kreises“ bedeutet, behauptet der Linguist, denn er verband Gewandtheit mit Komplexität und Attraktivität.


Steinig vertritt eine weitere These, die kurz und bündig heißt: ohne Tanz keine Sprache. Der Wissenschaftler stellt sich den menschlichen Körper als Percussion­ Instrument vor und die Füße als Trommelschlägel. Zunächst hätten die Tänzer ihre Körper frei bewegt, dann bildeten sich festgelegte Schritte heraus, die man zu längeren Abfolgen, Sequenzen und schließlich ganzen Tänzen zusammen­ gefügt hat.

Der Forscher geht davon aus, dass der Mensch nach dem Baukastenprinzip Schritte zu Schrittfolgen wie Laute zu Wörtern und Wörter zu Sätzen aneinanderfügte. Dabei seien die Kombinationsmöglichkeiten groß, aber nicht willkürlich. Sowohl Tanz als auch die Sprache folgten einer bestimmten Grammatik.

Als Basis dieser Grammatik betrachtet Steinig den Rhythmus des Trommelns.

In unserem Gehirn sind Sprache und Tanz miteinander verknüpft

Die menschlichen Laute passten sich sozusagen an die den Rhythmus schlagenden Füße an. So sei der Takt aus den Füßen in die Sprache gewandert. „Die Grammatik des Tanzes ging der Grammatik der Sprache voraus“, davon ist Steinig überzeugt, „und beide basieren auf den Prinzipien der Metrik.“

Ursprünglich waren Tanz und Musik praktisch identisch. Auch die beiden Neurowissenschaftler Steven Brown und Lawrence Parsons vermuten, dass der Körper selbst ursprünglich als „Schlaginstrument“ diente. Durch das Stampfen mit den Füßen, durch Fingerschnippen oder Händeklatschen habe der frühe Mensch Rhythmus erzeugt.

Bei ihren Bewegungsexperimenten machten die Wissenschaftler aus Kanada und England eine interessante Entdeckung: Sprache und Tanz sind auch in unserem Gehirn miteinander verknüpft. Beide finden sich in spiegelgleichen Arealen – die Sprache links im Broca-Areal und der Tanz genau gegenüber.

Das Broca-Areal ist zudem eng mit unseren Händen verbunden. Brown und Parsons sehen dadurch die gestische Theorie der Sprachentwicklung bestätigt, die besagt, dass der Mensch erst gestisch kommunizierte und sich daraus die Sprache entwickelte. Den Tanz deuten die beiden Wissenschaftler als die „Urform der Gebärdensprache“.

Bildgebende Verfahren machen sichtbar, dass schon einfache Tanzschritte zahlreiche Prozesse in unserem Gehirn auslösen. Es ist unser sensomotorisches System, das jede Bewegung berechnet, steuert und verknüpft. Bereits eine einfache Bewegung bezieht mehrere Hirnbereiche ein: Der Entschluss dazu entsteht im Frontalhirn. Im oberen Stirnlappen gehen dann Informationen aus dem Zentralnervensystem ein und zugleich wird festgelegt, welche Muskelpartie sich bewegt. Die entsprechenden Befehle leitet das Rückenmark weiter. Das Kleinhirn erhält durch Rückmeldung der Muskeln das Gleichgewicht und tariert unsere Bewegungen ständig aus. Der Scheitellappen sorgt für Orientierung und räumliche Wahrnehmung.

Lernen Menschen komplexere Tanzschritte, so fanden Brown und Parsons heraus, schalten sich weitere Hirnregionen ein. So synchronisiere der Wurm, ein Teil des Kleinhirns, die Tanzschritte mit dem Rhythmus der Musik. Der Kern des Tanzinstinkts allerdings, so konnten die Neurowissenschaftler nachweisen, liegt im mittleren Kniehöcker, der sich unter­ halb des größten Abschnitts des Zwischenhirns befindet. Der Kniehöcker lässt uns unwillkürlich im Takt der Musik schwingen. Dass wir sogar mit geschlossenen Augen die Lage unserer Körperteile im Raum wahrnehmen, schreiben die Wissenschaftler einem Stück des Scheitellappens zu, dem Prae­cuneus. Er enthält eine Art „kinästhetische Karte“ (Kinästhetik = Lehre von der Bewegungsempfindung). Begeben wir uns aufs Tanzparkett, akti­vieren wir zahlreiche sensorische, moto­rische und neuronale Prozesse und ver­knüpfen dadurch die verschiedensten Hirnbereiche.

Oft zu tanzen reduziert das Demenzrisiko um 76 Prozent

Unser Gehirn ist ein dichtes Netzwerk aus 100 Milliarden Nervenzellen, die sich in alle Richtungen verästeln und pausen­ los neu verknüpfen. Jede Interaktion mit unserer Umwelt, jede Bewegung und je­ der Gedanke stimuliert und verändert die­ses gigantische neuronale Netzwerk und hält es bis ins hohe Alter flexibel.

Dass sich Tanz vorteilhaft auf den Körper und die Psyche auswirkt, ist be­reits vielfach dokumentiert: Wer im Alter mindestens viermal pro Woche zum Tanzen geht, hat ein um 76 Prozent geringe­ res Risiko, an Demenz zu erkranken. Das ergab eine Fünf­-Jahres-­Studie in den USA mit 469 Teilnehmern, die älter als 75 Jahre waren. Ein anderes Forscherteam begleitete eine Frau, die an Multipler Sklerose erkrankt war. Nach einer fünfmonatigen Tanztherapie konnte sie eine ihrer Gehhilfen beiseitelegen. Auch Parkinson­-Patienten verbesserten tanzend ihre Mobilität. Der Musikkognitions­forscher Gunter Kreutz von der Univer­sität Oldenburg spricht von einer „quasi pharmakologischen Wirkung des Tan­zens“.
Doch Tanzen steigert das Wohlbefin­den nicht nur in kritischen Lebenssitua­tionen wie im Alter oder bei Krankheit: Eine Studie belegt, dass sich tanzende Grundschüler weniger aggressiv verhal­ten als ihre Mitschüler. Tanzen erfreut, weil unser Hormonhaushalt Endorphine ausschüttet. Bei Tangotänzern konnte man nachweisen, dass sich die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Speichel reduzierte.

Gunter Kreutz hebt vor allem den psychischen Effekt des Tanzens hervor: Patienten können ihr Selbstbild aufwerten, weil sie Kontrolle über ihren Körper zu- rückgewinnen und zudem schöne Empfindungen erleben. Ist Tanzen also natürliches Doping? Sollten unsere Ärzte lieber Tanzkurse statt Tabletten verordnen? „Am besten für die Gesundheit ist es, sich schon früh mit dem Tanzvirus anzustecken – und dann ein Leben lang damit infiziert zu bleiben“, empfiehlt Kreutz. Er plädiert dafür, das Tanzen bereits in den Schulen zu lehren, weil Kinder davon körperlich und seelisch stark profitieren. Der Musikkognitionsforscher nimmt an, dass Tanzen in der Evolution deshalb so erfolgreich war, weil es die kognitiven Fähigkeiten gesteigert hat: „Vielleicht hat sich die Menschheit nur durch den Tanz so weit entwickelt.“ Er vermutet sogar, dass sich Gesellschaften, in denen Tanzen verboten ist – etwa während der Militärdiktatur in Argentinien oder in islamistisch geprägten Gemeinschaften –, nicht weiterentwickeln und im Stillstand verharren. „Es gibt keine Ethnie, die nicht musiziert. Eine Gesellschaft ohne Musik und Tanz kann nicht überdauern. Tanz vermittelt Freiheit, Gemeinschaftssinn und ist eine Triebfeder.“

Doch ist Tanz wirklich ein Antrieb, fördert er die Kreativität des Menschen und seinen Umgang mit dem Leben? Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Dirk Patrick Hengst geht tatsächlich davon aus, dass die „rituellen Wurzeln der Kreativität“ im Tanz liegen. Durch die Ekstasetechnik des Tanzes habe der Mensch sich seit jeher in einen Rausch begeben, der ihn vom „Elend der eigenen Existenz“ befreite und ihn „geistige, imaginäre Räume durchmessen“ ließ.

Das körperfeindliche Christentum würdigte den Tanz herab

In Trance erlebe der Mensch eine Loslösung vom Alltag und werde gestärkt, erklärt der Religionsethnologe, und das inspiriere ihn zu Alternativen. Der Mensch könne erst dann neue Möglichkeiten denken, wenn er die Realität für eine gewisse Zeit hinter sich lasse. Wendet er sich der Wirklichkeit nach dieser Erfahrung wieder zu, könne er sie verändern und aktiv gestalten.

Das körperfeindliche Christentum würdigte den Tanz herab und verdrängte ihn nach und nach aus der Liturgie. Im 17. Jahrhundert postulierte der französische Philosoph René Descartes die endgültige Trennung von Körper und Geist. Seiner Ansicht nach lieferte allein der Akt des Denkens den Beweis der menschlichen Existenz.

Doch als eine der ältesten menschlichen Regungen und Ausdrucksformen hat der Tanz offenbar dazu beigetragen, uns zu dem zu machen, was wir heute sind – ein hochkomplexes Lebewesen. Vielleicht könnte man den berühmten Ausspruch von Descartes – „Ich denke, also bin ich“ – durch einen zweiten Satz ergänzen: „Ich tanze, also bin ich.“